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H.Pergande

 

Helga Pergande

1) Italienische Reise mit Hindernissen

2) Mit dem Auto in Neapel

1) Italienische Reise mit Hindernissen

Mit einem erleichterten Seufzer ließ ich mich in die Zugpolster des D-Zugs sinken. Acht Stunden ohne Umsteigen lagen vor mir - wie schön. Meine Kinder versuchten, unser Gepäck zu verstauen. Sie wuchteten die großen unhandlichen Reisetaschen auf die oberen schmalen Netzregale über den Sitzen und stopften die kleineren Taschen in die Zwischenregale. Die größtenSperrgutteile wurden unter unsere Sitze geschoben.

Der Zug ruckte an, und wir verließen den Münchner Hauptbahnhof Richtung Rom. Meine Uhr zeigte 20.11 Uhr an. Um 13.13 Uhr hatte unsere große Reise in Elmshorn begonnen, wo ich das erste Mal mit einem unguten Gefühl unsere zehn Gepäckstücke auf einem großen Haufen auf dem zugigen Bahnhof aufgetürmt sah. "Jeder nur eine Tasche", hatte ich meinen 13, 16 und 17 jährigen Mitfahrern zu Hause gesagt. Dazu pro Person ein Rucksack. Ein Proviantbündel für 23 Stunden unterwegs und eine tonnenschwere Riesentasche mit Laken und Handtüchern für die Ferienwochen im Eurocamp in der Bucht von Neapel vervollständigten unseren Umzug in zwei Wochen unbeschwerte Ferien.

Im Hamburger Hauptbahnhof probten wir zum ersten Mal das Umsteigen. Leichte Panik überfiel mich, als ich sah, wie lange es dauerte, zehnmal Gepäck und dreimal Kinder aus dem Zug zu bekommen. Mit Unbehagen dachte ich an die kurzen Aufenthalte zum Umsteigen auf uns unbekannten Bahnhöfen. Meine Jungs entwickelten aber im Laufe der Reise sehr schnell ein System. Wir verstopften zehn Minuten vor Einfahrt in die jeweiligen Bahnhöfe mit unserem Gepäckberg den kleinen Korridor an den Türen. Der Jüngste flitzte mit seinem Rucksack dann als erster hinaus und suchte tapfer auf fremdem Terrain nach einen Rollwagen. Einer seiner Brüder stieg aus und nahm die Gepäckstücke von dem anderen aus dem Zug entgegen. Ich türmte sie auf dem Bahnhof zum Gebirge und paßte auf, daß niemand in diesem unübersichtlichen Menschengewimmel auf die Idee kam, er könnte eine unserer Taschen gebrauchen. Es funktionierte hervorragend.

Wir hatten inzwischen München verlassen. Die reizvolle Landschaft wurde zunehmend gebirgiger, wir näherten uns den Alpen. Leider brach die Dunkelheit herein, so daß wir das Gebirgspanorama nicht genießen konnten.

Irgendwann in der Nacht passierten wir die italienische Grenze. Bei den Stops füllten sich die Abteile zunehmend. In unseres, das wir bisher allein für uns hatten, setzten sich zwei Italienerinnen mit Plastiktüten und großen Handtaschen. Wir lächelten uns freundlich distanziert zu. Sie rückten sich sofort in ihren Sitzen zurecht, so gut es ging, und schliefen. Meine Jungs hielt es natürlich nicht acht Stunden auf den Plätzen. Sie verschwanden und kamen wieder, schliefen kaum, spielten Karten, lasen, aßen, tranken und waren wieder auf Entdeckungstour. Meine Schlafversuche scheiterten an der nächtlichen Kälte. Ich fror so sehr, daß ich klappernd, mit meinem einzigen dicken Pullover bedeckt, lediglich ein wenig wegduselte und bei den vielen ungewohnten Geräusch oft hochschreckte.

Das war auch der Fall, als die Abteiltür rüde zur Seite geschoben wurde und laute Stimmen an mein Ohr drangen. Der Zug stand in irgendeinem italienischen Bahnhof und füllte sich mit Reisenden - italienischen Familien, Fahrradgruppen und Trampern. Zwei meiner Kinder waren gerade auf Achse, der dritte schlief ebenso wie die beiden Mitfahrerinnen. Zwei ältere Italiener in ausgebeulten Hosen und zerknitterten Sakkos schoben sich mit ihrem Gepäck laut schwatzend in unser Abteil. Es boten sich ja auch zwei scheinbar leere Sitze an. Sofort sprang ich auf und bugsierte die beiden verdutzten Herren flugs wieder nach draußen auf den schmalen Gang, indem ich einfach auf sie zuging und bei dem ersten Körperkontakt unbeirrt weiter vorwärts drängelte. Bedauernd hob ich die Schultern und sagte freundlich:" Tut mir leid, besetzt." Damit schob ich die Abteiltür zu und plumste in meinen Sitz. Rums! Die Tür flog wieder auf. Einer der Herren ließ einen unverständlichen Schwall auf mich nieder und deutete auf die leeren Sitze meiner aushäusigen Kinder. "Bambini", stieß ich erklärend hervor. "Bambini." Er verstand nichts und schwang seine Tasche ins Gepäcknetz, während sein Reisebegleiter ins Abteil drängelte. Jetzt reichte es mir. Hastig zerrte ich seine Tasche hinunter und drückte sie ihm an die Brust, dabei schob ich ihn Richtung Tür.

Er wurde sauer. Ich auch. Leider verstand ich kein Wort von dem, was er mir erregt entgegenschleuderte. Dafür erklärte ich ihm auf Deutsch, warum er und sein Kumpel hier nicht sitzen konnten. Auch er verstand kein Wort.

Etwas grob rüttelte ich die jüngere schlafende Italienerin. Vielleicht konnte sie etwas Deutsch, und warum schlief sie so seelenruhig? Zu meinem Erstaunen ließ sie sich weder von den immer lauter werdenden Wortgefechten noch von meinen Attacken kaum stören. Kurz mit den Augen blinzelnd, drehte sie ihren Kopf auf die andere Seite und wollte nicht belästigt werden. Meine beiden hartnäckigen Italiener waren indes auch nicht faul gewesen und hatten den Schaffner herbei gezerrt.

Jetzt wurde es eng im Gang. Mühsam quetschten sich jede Menge junger Leute mit Riesenrucksäcken und zusammengerollten Schlafsäcken vorbei. Europas Jugend war unterwegs. Der Zug war mittlerweile knallvoll. Vorsichtshalber trat ich an die Schiebetür und versperrte damit das Abteil. Dann zeigte ich dem Bediensteten meine Platzkarten, und zwar alle vier. Er studierte sie aufmerksam und bedächtig. Das nutzte wieder der eine Platzforderer, um frech seine Tasche schon wieder bei uns abzulegen. Entrüstet riß ich sie erneut aus dem Netz heraus. Den Schaffner schienen meine Papiere nicht zu imponieren. Er deutete auf die beiden leeren Plätze, dann auf den mittlerweile überfüllten Gang und sprach eine ganze Menge unverständlicher Dinge zu mir. Dann winkte er herrisch den Gang entlang, und zwei uniformierte waffentragende Männer tauchten auf. Sie schauten streng ins Abteil, dann auf mich und verlangten alle Dokumente, die ich hätte. Sie studierten sie eifrig, gaben sie dem Schaffner statt mir und postierten sich hinter ihn. Mir wurde etwas mulmig. Ich rüttelte mein tief schlafendes Kind wach und zischte ihm zu: "Du mußt Deine Geschwister suchen, los, beeil Dich." Noch taumelnd vom Schlaf verschwand es, hoffentlich hatte es verstanden, was ich wollte. Wie ein Zerberus hielt ich die Stellung. Ein bißchen Feindseligkeit lag in der Luft. Die Minuten dehnten sich endlos.

Endlich, endlich stürzten die Kinder in das Abteil. "Was'n los?" fragten sie verständnislos. Erleichtert sah ich, wie die Männerriege abschob. Meine beiden Ausreißer hatten es sich, wie sie erzählten, in der spärlich besetzten ersten Klasse bequem gemacht und dort geschlafen. Jetzt vertrat ich mir die Beine und verdonnerte meine Schar, wie angeklebt sitzen zu bleiben. Draußen dämmerte es. Der schmale Gang durch den Zug war hoffnungslos vollgestopft. Mühsam bahnte ich mir einen Weg über Knie und Köpfe, Gliedmaßen und Gitarren. Junge Reisende saßen oder lagen im Gang, einige in ihre Schlafsäcke gewickelt.

Wie um alles in der Welt, dachte ich entmutigt, sollen wir in Rom rechtzeitig aus dem Zug gelangen. Wahrscheinlich fährt er mit der Hälfte meiner Familie und meines Gepäcks munter weiter, während der klägliche Rest mutterseelenallein im römischen Hauptbahnhof stand. In Rom hatten wir nämlich einen wirklich kurzen Aufenthalt. Unser nächster Zielort hieß Sessa Aurunca, und das war ein kleines Kaff Richtung Neapel, wahrscheinlich zu erreichen mit einem Vorortzug. Ich hatte keine Ruhe mehr. "Bleib mal leger", verstanden meine Jugendlichen die Aufregung nicht und fletzten sich gemütlich in ihren Sitzen. "Notfalls werfen wir das Gepäck aus dem Fenster." Gute Idee, aber auf welcher Seite? Wahrscheinlich auf der von den Reisenden zugestopften Seite, die dann in einer endlosen dichten Schlange auf dem Gang dem Zugausstieg zustrebten.

Ich trieb meine Jungs an, unsere Sperrgutstücke eine halbe Stunde vor der Einfahrt in den Bahnhof Rom an die nächste Außentür zu deponieren. Diese Aktion dauerte auch fast so lange. Mit permanenten Entschuldigungen nach allen Seiten drückten, drängelten, schoben und hievten wir unsere Habe durch die gleichgültige, verschlafene Masse. Ich empfand es als Katastrophenarbeit und schwor mir, nie wieder mit dem Zug in den Urlaub zu fahren, jedenfalls nicht mit Kindern. Wir gelangten aus dem Zug, und meine Jungs schwärmten aus, um unseren sehr geschmolzenen Proviant zu ergänzen, in erster Linie mit Trinken. Viel Zeit dazu hatten sie nicht. Treffpunkt war der Informationsschalter, an dem ich in einer langen Schlange anstand. Gerade noch rechtzeitig bevölkerten wir einen Bummelzug nach Neapel.

In zwei Stunden Fahrt würden wir am Zielbahnhof sein. Der Zug war lang, schnaufte gen Süden, und wir genossen im letzten Waggon eine tolle Aussicht. Geschichte pur - römische Geschichte. Kilometer um Kilometer begleiteten uns zu beiden Seiten Aquädukte und in der Landschaft stehende Säulen sowie Ruinen auf Hügeln. Ich "sah" durch die grünen sanft geschwungenen Täler römische Kohorten mit in der Sonne glitzernden Helmen, in Reih' und Glied gen Hauptstadt marschieren, sah Eselskarren mit schwankenden Weinfässern oder aufgetürmtem Stroh die Wege nach Rom entlangschaukeln. Meine Begeisterung wurde indes nicht geteilt. "Solche Bilder haben wir auch im Geschichtsbuch", nuschelten meine kulturlosen Banausen und widmeten sich ihrem Skat.

Nach zwei Stunden hielt der Zug tatsächlich an einem Minibahnhof namens Sessa Aurunca. Vorsichtshalber hatte ich dem netten Schaffner schon signalisiert, daß wir dort aussteigen wollten. Leider war der Bahnsteig nicht so lang wie der Zug, so daß unser letzter Waggon in freier Wildbahn stand. Die südliche Mittagshitze schlug uns entgegen, als wir metertief auf den Schotter sprangen. Der Schaffner sprang hilfsbereit hinterher und nahm das ihm zugeworfene Gepäck entgegen. Mitten im Ausladen ruckte der Zug an. Er fuhr nach seinem ihm angemessenen Aufenthalt an dem Minibahnhof eben einfach weiter. Ein scharfer Pfiff des geistesgegenwärtigen Bahnbeamten, und der ignorante Lokführer stieg auf die Bremse, so daß wir die restlichen Gepäckstücke entladen konnten. Bepackt wie Kulis schnauften wir zum Bahnsteig. Das Sperrgut mit Laken und Handtüchern trugen zusätzlich zu ihrem Gepäck die beiden großen Jungs auf dem unebenen, abschüssigen und rutschenden Schotter. Ich hätte es auch keinen Zentimeter mehr vorwärts gebracht. Doch nun lockte das Camp. Wir hatten lediglich in den nächsten Ort Baia Domizia zu fahren.

Zwei Stunden warteten wir in sengender und schwüler Hitze auf den spottbilligen Linienbus. Die Taxen dort waren mir zu teuer. Dieser Bahnhof bot außer einer kleinen Halle mit Sitzbänken wenig. Eine staubige Straße mit großen Schlaglöchern führte kilometerweit geradeaus von dem Kaff Aurunca weg. Einige weißgekalkte Häuser standen gelangweilt im Staub. Ihre asymmetrisch angebauten Zimmer und Verschläge auf Dachgärten und Vorbauten muteten wie unordentlich aufeinandergestapelte Schuhkartons an. Spielende kleine Kinder tauchten auf den Balkongängen in den verschiedenen ungleichmäßigen Stockwerken zwischen der schlapp hängenden Wäsche auf. Ausschließlich Männer, deren schmutzigweißen T-Shirts sich über die Bäuche spannten, saßen auf Klappstühlen auf dem kleinen Parkplatz vor dem Bahnhof, rauchten und unterhielten sich. Die Zeit verrann unendlich langsam, bis der Bus auf der flirrenden Asphaltstraße auftauchte.

"Baia Domizia?" fragte ich hoffnungsvoll. Der Busfahrer nickte, und wir enterten das Fahrzeug. Im Kurort Domizia bedeutete er uns, auf dem Marktplatz auszusteigen. Ich schüttelte energisch den Kopf. "Eurocamp", sagte ich. Er grinste höflich. Etwas stutzig machte mich allerdings die Tatsache, daß alle Fahrgäste aus- und neue zustiegen. Wir fuhren aus dem Ort hinaus. Der Bus blinkte rechts und hielt an einer einsamen T-Kreuzung. "Domizia Camp" deutete der Fahrer nach links. Wir mußten aussteigen, seine Tour ging zurück nach Sessa Aurunca.

Jetzt waren wir unserem Ziel so nah, und doch war es unerreichbar. Mit diesem Gepäck auf öder Landstraße, nur von Büschen gesäumt, wer weiß wie lange zu marschieren, war unmöglich. Der Bus verschwand, die Kinder ließen sich mit hängenden Köpfen auf einer niedrigen Mauer nieder. Ich entdeckte hinter grellweißen Mauern und Gebüsch eine Wohnsiedlung. Aufmunternd rief ich meiner schlappen Schar zu, ich würde Hilfe besorgen und ließ sie allein. Tatsächlich begegnete mir nach kurzer Zeit ein älterer Mann, den ich nach einem Telefon fragte. Ich wollte im Camp anrufen, ob man uns von dort einen Campbus schicken könnte. Der Italiener verstand nicht, was ich wollte. "Multi bambini, multi baggaje" radebrechte ich und zog den armen Mann zu dem Platz, an dem uns der gemeine Busschaffner in der Wüste ausgesetzt hatte.

Mein neuer Freund staunte nicht schlecht, als er meinen imposanten Anhang sah. Er sagte lachend etwas auf Italienisch und verschwand. "Den sind wir los", riefen meine Jungs enttäuscht. Kurze Zeit später kam ein kleines Auto angebrummt, und unser Retter sprang heraus. Er lud alles ein und stopfte uns dazu. Nicht einmal zehn Minuten dauerte die Fahrt zum Camp, aber für uns wären es qualvolle Stunden gewesen. Der Gute setzte uns direkt vor dem Campeingang ab. Er küßte mich auf die Wangen, meinte lachend "bella mama", und weg war er.

Nahezu auf allen Vieren krochen wir mit letzter Kraft in die kühle elegante Empfangshalle - wie Verirrte in der Wüste, die sich in eine Oase retten konnten. Ich zog mich am blankpolierten Tresen hoch und meldete uns an. "Ihr Auto können Sie gleich zum Campingplatz mitnehmen, geben Sie mir bitte ihr Kennzeichen", hörte ich von einer gepflegten Dame mit sorgfältig rotlackierten Nägeln und ebenso sorgfältig frisiertem Haar. Wann hatte ich mich eigentlich das letzte Mal gekämmt? "Wir sind mit dem Zug gekommen", krächzte ich. Wie eine Fata Morgana tauchte vor meinem inneren Auge ein Fruchtcocktail mit Eis und Kiwischeibe auf. Wir wollten endlich zu unserem Lagerplatz. "Sie sind was?" fragte Miss Elegant ungläubig. "Niemand kommt hier ohne Auto an." "Wir schon", patzte ich zurück. "Ich brauche einen Gepäckwagen und meinen Zeltplatz." Ich bekam alles. Das Zelt war wundervoll, der kleine Gartenplatz ebenso. Ich ließ mich im Schatten auf eine Gartenliege plumpsen. Geschafft! Wir waren tatsächlich angekommen.

Meine Kinder sausten energiegeladen sofort los, um die Umgebung zu erkunden. Alleinsein tat jetzt gut. Langsam entspannte ich mich. Zu meinen Füßen raschelte es dezent. Das Licht- und Schattenspiel auf dem waldähnlichen unebenen Boden ließ mich zunächst nichts erkennnen. Doch dann erblickte ich eine Eidechse, dann noch mehrere, die zwischen Blättern und Baumwurzeln hin- und herhuschten.

Ich fühlte mich wohl, und als wir uns alle kurze Zeit später ins warme Tyrrhenische Meer stürzten, fingen die entspannenden Ferien an.

2) Mit dem Auto in Neapel

Bisher hatte ich geglaubt, ich beherrsche das Autofahren ganz gut. Auf Italiens Straßen kamen mir indes Zweifel, und ich mußte notgedrungen eine ganze Menge dazulernen.

Wir sind auf dem Weg von Rom nach Neapel. Noch 20 Kilometer. Der Verkehr wird dichter, je weiter südlich wir rollen. Wir brausen mit unserem kleinen italienischen Leihwagen mit überhöhter Geschwindigkeit auf der zweispurigen Schnellstraße dahin. Alle fahren hier schneller als erlaubt. Weißgetünchte schlichte Häuser mit dahinterliegenden Gärten und daran angrenzenden Feldern ziehen vorbei. Ab und zu kleine Ortschaften mit noch kleineren Läden an der Straße, die ihre Obst- und Gemüsekisten einladend vor den weiß gekalkten Geschäftswänden draußen im Staub gestapelt haben. Katzen, Hunde und Hühner streunen frei herum und werden von den Verkäufern grob von den Lebensmitteln verscheucht. In den Dörfern fahre ich im Gegensatz zu den anderen Autos langsamer, weil ich einen Zusammenstoß mit den manchmal plötzlich über die Straße laufenden Tieren vermeiden möchte. Vermieden habe ich auch, meine Kinder auf die toten Tiere an Straßenrändern aufmerksam zu machen.

Neapel rückt näher, und ich benutzte überwiegend die linke Spur, weil rechts etliche langsame Laster keuchen. Was mich als deutschen Führerscheinabsolventen so maßlos verblüfft, ist der Einfallsreichtum der italienischen Autofahrer, wenn es darum geht, beim Ampelstop nicht hinten in der Schlange zu stehen und womöglich bei der Grünschaltung nicht mit über die Kreuzung zu kommen. Sie eröffnen flugs links und rechts neue Spuren und brausen zu viert nebeneinander los, wie eine eng eingehakte Gruppe. Aus der Gegenrichtung kommt einem eine genau so breite Blechfront entgegen. Meine Halbwüchsigen sind begeistert. Mir erscheint es ein bißchen wie Wilder Westen, und diese Situationen erfordern schwitzend meine Aufmerksamkeit. Manchmal fahren auch Autos bei Rot an mir vorbei, wenn die Fahrer meinen, es sei Zeitverschwendung, an einer Kreuzung mit wenig Querverkehr anzuhalten. Notfalls werden sie ja gehört - Italiener hupen. Sie hupen, um sich waghalsig vorbeizudrängeln. Sie hupen, wenn der Vordermann zu langsam fährt. Sie hupen aus Spaß. Hauptsache, sie hupen.

Die meisten Autos sehen so aus, als ob sowieso nur die Hupe das einzige ist, was am Fahrzeug richtig funktioniert. Wahrscheinlich überprüft der italienische TÜV, wenn es denn einen gibt, in erster Linie die Funktionsfähigkeit der Hupe. Wir sind auf Italiens Straßen, und da gelten andere Verkehrsregeln. Und so möchte ich nicht dumm auffallen und eröffnete wagemutig eine dritte Spur, um einen Melonenkleinlaster zu überholen. Hupen nicht vergessen.

Die Anerkennung meiner Trabanten beflügelt mich. Um meine angespannten Nerven etwas zu schonen, rolle ich ab und zu gemütlich auf der rechten Spur. Plötzlich überholt mich jemand rechts. Ich wundere mich, weil ich ja schon rechts fahre. Ein großer, etwas verbeulter Schlitten schiebt sich an mir vorbei. Am Steuer sitzt breit grinsend ein junger Mann, die Zigarette hängt lässig im Mundwinkel. Seine kurzen schwarzen Haare kräuseln sich den Nacken hinunter. Sein Seitenspiegel streift meinen. Bewußt? Meine Hupe warnt ihn empört. Meine Jungs auch. Sie mögen seine "Matte" nicht, ich nicht sein Macho-Gehabe. Sie schreien etwas nicht sehr Feines aus den geöffneten Fenstern und zeigen ihm "den" Finger. Mir bricht der Schweiß aus, und ich gebe Gas. "Spinnt Ihr? Ihr seid hier nicht zu Hause." Macho erträgt so viel Unverschämtheit nicht. Auch er gibt Gas, steuert seine Kiste auf Tuchfühlung an meinen Wagen heran und grinst gar nicht mehr. Meine kleinen Scheusale haben sich zwischen die Rückpolster verzogen und rufen "Gib Gas, Mama, wer weiß, was der vorhat." Ich breche nach links aus und drücke auf das Pedal. "Er verfolgt uns", informieren mich die feigen Mitfahrer. Schnell eröffne ich eine neue linke Spur und überhole, was das Zeug hält. Leider ist die Straße hier nicht sehr breit. Die Autos, die mir entgegenkommen, müssen zusammenrücken. Sie hupen. Ich auch. Egal. Mein Auto schlängelt sich links und rechts, hupend natürlich, an den anderen vorbei, und versucht sich zu verstecken. Eine bange Weile verfolgt uns Macho noch, dann ist ihm wohl die Lust vergangen.

Bei der ganzen Aufregung habe ich die Ringstraße, die um Neapel herumführt, verpaßt und lande dort, wo ich auf gar keinen Fall hin will: am Hauptbahnhof mitten in Neapel. Im Reiseführer hatte ich gelesen, daß man als ungeübter Fahrer, sprich, als Nichtitaliener, auf eine Besichtigungstour in Neapel per Auto verzichten soll, weil gerade dort alle Verkehrsregeln außer Kraft gesetzt seien. Aber nun war ich da, und was blieb mir übrig, als weiterzufahren, wenn ich nicht mit meiner Mannschaft am neapolitanischen Bahnhof übernachten wollte. Ich stürze mich in das Gewühle. Sternförmig laufen aus allen Richtungen Straßen auf den Bahnhof zu und münden auf dem riesigen ungleichmäßig gepflasterten Vorplatz. Der ist indes vor wild durcheinanderfahrenden, wild hupenden Autos kaum zu sehen. Ich muß auch über diese Fläche, die völlig unmarkiert ist, so daß man sich weder orientieren, noch irgendwo einordnen kann.

Eine vermeindliche Gnadenfrist gibt mir eine rote Ampel. Ich stoppe - allerdings bin ich die einzige. Rechs neben mir biegen Autos rechts ab, links neben mir sausen Autos vorbei und biegen vor meinem haltenden Fahrzeug auch rechts ab - hupend natürlich. Völlig irritiert starre ich auf das rote Ampelzeichen, vielleicht blendet die Sonne, und es zeigt grün an? "Mama, fahr zu. Du bist richtig peinlich", nerven meine lieben Sprößlinge. Wieso bricht mir jetzt der Schweiß aus? Ich verhalte mich korrekt. "Hier gelten keine Verkehrszeichen", frohlocken meine gemeinen Kinder. "Jetzt zeig mal, was Du kannst."

"Na gut", denke ich und gebe Gas. Mitten hinein in die Arena. Wild hupend bahne ich mir vorsichtig einen Weg über den großen Platz, auf dem hinter jedem Steuer ein unberechenbarer Idiot zu sitzen scheint. Jeden Moment erwartet ich, daß mir mindestens drei Autos gleichzeitig in meinen roten Hüpfer krachen. Aber wie durch ein Wunder erreichen wir unbeschadet eine Straße. Hier ist es nicht besser. Wir fahren Stoßstange an Stoßstange, Seitenspielgel an Seitenspiegel, durch ärmliche, schmutzige Häuserschluchten. Ich habe gar nicht die Wahl, nach Vorschrift zu fahren. Und plötzlich bringt es Spaß. Ich gebe Gas, ich bremse, ich hupe, ich überhole, ich weiche einem Zigarettenverkäufer in letzter Minute aus, der mit seinem albernen Ständer mitten auf der Straße steht, indem ich eine neue Spur eröffne und laut hupend die entgegenkommenden Fahrzeuge auf den Gehweg scheuche. Was soll's. Meine Monster schreien vor Vergnügen. Sie können sich gar nicht satt sehen an dem Chaos.

Wir scheinen das ärmste Viertel Neapels zu durchqueren. Schmutzige, abgeblätterte Häuserwände, viele kleine Läden, abgasumwölkte Apfelsinen- und Tomatenkisten auf dem Gehsteig. Wäsche baumelt traurig von schmiedeeisernen engen Balkonen. Wie kann sie hier sauber bleiben bei dem permanenten Verkehr, der sich in je zwei Spuren durch die engen Straßen quält. Und dieser Lärm! Hier ist ein Wohnviertel, die Bürgersteige sind genau so bevölkert wie die Straße.

Ein Auto wird vor einer Werkstatt auf dem Gehweg und halb auf der Straße repariert. Ein Fahrer hält einfach auf der Fahrspur an, um sich von einem Straßenhändler eine Tüte Obst geben zu lassen. Jeder versucht, unter ohrenbetäubendem Gehupe um ihn herum zu fahren. Hupen bringt Spaß, hebt die Laune, Hupen macht frei - ich bin Italiener und schiebe mich rechts an einem Rechtsabbieger vorbei. Meine laute Hupe sagt ihm unmißverständlich, daß er mich beim Geradeausfahren behindert. Ich habe zuerst gehupt, also muß er bremsen und warten.

Meine Banausen hoffen, daß ich die Abfahrt zur Schnellstraße nicht so schnell finde. Wie soll ich auch, ich weiß ja überhaupt nicht, wo ich bin. Verzweifelt suche ich eine Parklücke an der Straße - mit den Augenwinkeln, denn ich wage nicht, meine Aufmerksamkeit von den auf Tuchfühlung lauernden Fahrzeugen zu wenden. Notfalls halte ich einfach beim nächsten Gemüsehändler. Mich schockt hier nichts mehr - außer "Alberto", der frech mit seinem dreirädrigen Mini-Melonenauto um die Kurve schlingert, ein Stück auf dem Gehweg entlangrumpelt und uns auf unserer Straßenhälfte entgegenkommt. Eine neue Spur auf der verkehrten Seite. Das ist ja richtig dreist, und meine Kinder brüllen vor Lachen. Alberto hupt auch, weil er sehr behindert wird. Entsetzt bin ich auch von der halsbrechereischen Fahrweise der Jugendlichen, die sich auf ihren Vespas allein oder zu zweit, natürlich ohne Helm, dafür in Sandalen und flatternden Oberhemden oder Röcken, durch diesen chaotischen gesetzlosen Verkehr schlängeln. Ich vermute, die Vespas sind in Neapel die einzige Möglichkeit, von einer Straßenseite zur anderen zu gelangen, ohne unter Autorädern zu sterben.

Ich weiß auch nicht, warum an den Straßenkreuzungen, die wir ab und zu passieren, diese überflüssigen Ampelanlagen stehen, die rot und grün anzeigen. Ich jedenfalls kümmere mich nicht mehr um solche banalen Kleinigkeiten, ich kurbel mein Fenster herunter, hänge den Ellbogen hinaus, hupe und gebe Gas. Irgendwann werden die Straßen breiter, in der Mitte der jetzt dreispurigen Fahrbahnen zieht sich ein Grünstreifen entlang, auf dem etliche tote Hunde liegen. Wir mögen alle nicht hinsehen. Die Häuser sehen nicht mehr so trist aus, stehen weiter auseinander, die Bürgersteige sind einladend breit und die Menschen besser gekleidet.

Vielleicht geht es hier zur Autobahn Richtung Rom? Der Verkehr läuft schleppend, aber wie gewohnt Stoßstange an Stoßstange. Wir gucken uns nach Hinweisschildern die Augen aus. Da passiert es: rums, ich sitze auf meinem Vordermann drauf. "Mama, Du hast einen Unfall gebaut", ruft überflüssigerweise meine Crew. Wie erstarrt taxiere ich das Opferfahrzeug: einen großen BMW, chromblitzend, Auspuff dran, Seitenspielgel dran, alles dran. Und ein römisches Kennzeichen. Ein stolzer Römer im gut sitzenden, teuer aussehenden Anzug steigt langsam aus, ignoriert vornehm das einsetzende Hupen hinter uns und begutachtet mit sorgenvoller Miene seine unbeschädigte Rückstoßstange. Er zieht ein blütenweißes Taschentuch aus der Hosentasche, reibt damit liebevoll über die blitzende Stoßstange, schüttelt traurig den Kopf und schreitet dann gemessen zu meiner Fahrertür. Warum nur muß ich den einzigen Nicht-Neapolitaner in Neapel anfahren, denke ich gequält und bequeme mich ebenfalls aus dem Leihwagen. Das Gehupe hinter uns wird ohrenbetäubend. Wir verursachen einen Stau. Meinen Römer stört das nicht. Er läßt einen italienischen Redeschwall auf mich niederprasseln. Es klingt nicht sehr freundlich. "Was Du kannst, kann ich auch", denke ich und lasse einen deutschen Redeschwall auf ihn niederprasseln. Meine Halbwüchsigen, die sich schon anfingen zu langweilen ob der vornehmen Gegend, kurbeln trotz des Abgasegestanks in der Luft mit blitzenden Augen die Autoscheiben herunter, um von dem spannenden Intermezzo nichts zu verpassen.

Der BMW-Mitfahrer hat sich inzwischen zu dem leidenden Fahrer gesellt und streichelt ebenfalls mit Sorgenfalten auf der Stirn die unversehrte Stoßstange des Autos. "Jungs", sage ich bestimmt, "Eurer Luxuskarosse ist nichts passiert. Setzt Euren Hintern wieder in die Polster und fahrt weiter. Mein Auto ist geliehen und versichert, ich zahle sowieso keinen Pfennig." Sie streicheln weiter und spähen vergeblich nach einem kleinen Kratzer. Dabei reden sie miteinander und auf mich ein. Was, um Himmels willen, wollen sie?

Irgendwann habe ich genug. Ich winke ihnen freundlich zu, setze mich in meinen Wagen und lasse unmißverständlich den Motor an. Zu meiner Erleichterung trollen sie sich in ihre Karosse, das einzige Auto, das wir seit Stunden ohne eine einzige Beule sehen. "Wer in Neapel kein Auto fahren kann, soll in Rom bleiben", denke ich ein bißchen überheblich und überhole hupend das teure Gefährt. Wir erwischen einige Male eine vermeindliche Ausfallstraße, landen wieder in Neapel, bis eine schlecht beschilderte Abfahrt zur Autobahn sich als Treffer erweise. Wir entrinnen endlich der Hölle Neapel.

Das Sprichwort "Alle Wege führen nach Rom" haben wir widerlegt. Alle Wege führen mit Sicherheit nach Neapel.

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